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Psychologie/Entwicklung

Shin Gyo So

Aus dem Abschnitt über Shin Gyo So
Aus Earl Hartman's Principles of Training

deutsche Übersetzung und Veröffentlichung mit der freundlichen Genehmigung von Earl Hartman

Wachstum im Kyudo hat ein natürliches Fortschreiten. Anleitung und Üben müssen im Einklang mit diesem natürlichen Fortschreiten sein.

Wachstum im Kyudo folgt wie überall einem natürlichen Fortgang von den Anfängen über einen Zwischenbereich zum Fortgeschrittensein. Weil einige schneller voranschreiten mögen als andere, kann die Ordnung dieses Prozesses nicht geändert werden und jeder wird ihm unvermeidlich folgen ohne Rücksicht darauf wie sehr er auch auf einen schnellen Erfolg aus sein mag.
Im Kyudo ist dies in der Formel "Shin Gyo So" ausgedrückt. Shin Gyo So kann wie folgt definiert werden:
· Shin bedeutet der Wahrheit nachzugehen. Dies bedeutet, dass den Grundzügen des Schießens sorgfältig und gewissenhaft nachgegangen werden soll.
· Gyo bedeutet die Wahrheit auszuführen. Das bedeutet, das Schießen soll wahren Prinzipien Folge leisten.
· So bedeutet Form als Natur. Es bedeutet, dass das Schießen natürlich und in Harmonie mit den Dingen sein soll.
Das weist auf eine natürliche Entwicklung hin, in der Shin, Gyo und So nahtlos aufeinander folgen, wenn die Zeit reif ist.
Shin bezieht sich auf den Anfänger. Am Anfang ahmst du die Formen und Bewegungen nach mit wenig oder gar keinem Verständnis für ihre Verwendung, ihre Bedeutung und ihre Absichten. Alles ist eine Menge von unbegreiflichen Einzelheiten, und die geringste Zerstreuung oder ein unerwartetes Ereignis wird dich in Verwirrung bringen. In diesem Stadium musst du sehr sorgfältig und achtsam üben, dich selbst bewusst drillen, so dass du lernst alles in genauer Übereinstimmung mit den korrekten Grundzügen auszuführen. Wenn du mit dem Schießen im Laufe der Zeit vertrauter geworden bist, werden deine Bewegungen zunehmend zuversichtlicher und selbstbewusster. Dein Atem wird geordnet und ruhig werden, deine Bewegungen werden Kraft und Entschlossenheit annehmen, dein Schießen wird fließend und dynamisch.
An irgend einem Punkt innerhalb dieses Kontinuums gehst du natürlicherweise von Shin in Gyo über, wo du nun wirklich übst. Du hast dir die korrekten Grundzüge des Schießens einverleibt und arbeitest nun daran, sie zu verfeinern und das Schießen zu einem Teil deiner selbst zu machen. Schließlich, wenn die Jahre vorübergehen und du immer sorgfältiger übst, wird dir an einem gewissen Punkt das Schießen zur zweiten Natur werden und du und das Schießen werden schließlich in einem harmonischen Ganzen aufgehen.
Du bist dann ganz natürlich in So übergegangen.
Ich denke es gibt viele Wege dieses Fortschreiten zu betrachten. Murakami Hanshi spricht, eine grobe Analogie zu Shin Gyo So aufmachend, von drei Ebenen des Geistes, durch die der Bogenschütze fortschreitet. Zuerst ist da "haru ki", oder ein übertreibender (im Original:stretched) oder spannungsgeladener (im Original: taut) Geist, dann "sumu ki", oder ein gefestigter Geist, und schließlich "haeru ki", oder ein klarer Geist.** Onuma Hanshi spricht in seinem Buch von drei Ebenen der Kunstfertigkeit im Schießen: "toteki", oder mechanische Genauigkeit, "kanteki", oder das kraftvolle Durchbohren des Ziels mit dem Pfeil, und "zaiteki", dem Stadium, in dem das Schießen so vollkommen ist, dass der Pfeil sozusagen im Ziel ist, bevor er überhaupt abgeschossen wird.*** Ich denke, dass die folgende grobe Analogie geeignet sein kann das Fortschreiten von Geist und Technik beim Bogenschützen auszudrücken. Ich glaube, dass es ein natürliches Fortschreiten ist, und dass alle Bogenschützen es notwendig durchlaufen. Shin = Haru ki= Toteki Gyo = Sumu ki = Kanteki So = Saeru ki = Zaiteki Im Shin übst du mit einem übertreibenden oder spannungsgeladenem Geist, mit dem, was Murakami Hanshi "haru ki" nennt. Das ist der Geist der Jugend, der auf purer Energie, Begeisterung und Schwung beruht. Er ist voller Energie, aber unstet wie Wasser. Um Murakami Hanshi zu zitieren: "haru ki ... kann auch kihaku, oder geistige Intensität, genannt werden. Ein spannungsvoller Geist hat etwas von Jugendlichkeit, Aufgewecktheit, Offenherzigkeit und Erregbarkeit an sich. Jedoch, .... unter dem Einfluss von Emotionen kann ein spannungsgeladener Geist seine entgegengesetzte Seite zeigen und Aspekte enthüllen von Zurückschrecken, Hast, Nachlässigkeit, Unbesonnenheit, exzessivem Sich-Verrennen oder Agitieren."**** Dieser Geisteszustand kann mit dem eines jungen Hundes verglichen werden. So wie die Stimmung eines jungen Welpen wild zwischen Glück und Furcht hin und her schwingen kann, je nachdem wie er von seinem Herrchen behandelt wird, genauso wirst du, wenn dein Schießen geistig unreif ist, immer hin und her springen zwischen freudiger Erregung und Verzweiflung, und zwar abhängig von äusserlichen Ergebnissen. Deswegen wirst du, hast du erst einmal die ersten Anfänge des Schießens gelernt, den Wert deines Schießens nahezu unvermeidbar ausschließlich danach beurteilen, ob du das Ziel triffst oder nicht. Insofern bekommt das Treffen eine vitale Bedeutung für dich und alle deine Bemühungen werden dahin geleitet, technische Tricks zu entdecken, die dir erlauben regelmäßig zu treffen. Einmal angeeignet, wirst du an ihnen hängen und alle Veränderungen zurückweisen, die deiner Meinung nach deine Treffgenauigkeit behindern könnten. sitemap Das ist das Stadium, das Onuma Hanshi toteki oder "einfach mit dem Pfeil das Ziel treffen" nennt. toteki-Schießen kann ziemlich treffsicher sein, aber es ist ebenso begrenzt wie unberechenbar. Wenn du einen guten Tag hast, kannst du ganz schön gut schießen. Aber die kleinste Veränderung kann dein Schießen vollkommen aus der Bahn werfen, so dass deine Treffgenauigkeit von einem Tag zu nächsten äußerst schwanken kann. Weil du deine Kunst nicht wirklich durchblickst, werden dir deine Veränderungen im Schießen oft nicht bewusst, und wenn sie dir bewusst werden, verstehst du gewöhnlich nicht, warum die Veränderungen eingetreten sind, und deshalb hast du keine Idee, wie du dich selbst korrigieren könntest. Zusätzlich, weil sie ihre Bögen nicht sehr gut verstehen, haben toteki-Schützen die Tendenz ihre Bögen zu misshandeln, indem sie sie unbeabsichtigt mit zuviel Steifheit und unnötiger Kraft schießen. Diese Weise des Schießens ist nicht nur hässlich, sie ?tötet? einen Bogen. Er kann sein volles Potential nicht zeigen und der Missbrauch, den er erleidet, kann ihn brechen (trifft auf Bambusbögen zu, Anm. webmaster). Gleichwohl ist das toteki-Stadium nicht unbedingt eine abartige Sache an einem Anfänger. Anfänger wissen der Definition des Wortes nach erst einmal nichts, haben keine Selbsterfahrung und insofern keine Grundlage Urteile zu fällen. Sie können die tieferen Aspekte des Kyudo nicht verstehen. Auf ihre Weise ist ihre Einstellung logisch und rein: sie können klar sehen, ob der Pfeil das Ziel trifft oder verfehlt, und sie nehmen das natürlicherweise her, um Erfolg und Misserfolg zu beurteilen. Da ist nichts Befremdliches daran. Es bildet sich heraus, ohne dass es ausgesprochen werden muss: unter gleichen Umständen geschossen ist ein Treffer einem Nicht-Treffer vorzuziehen. Nur ein Kyudo-Meister von hohen Graden kann so perfekt schießen, dass er wirklich unbesorgt ist, wohin seine Pfeile fliegen. Wenn dies auch wie ein Widerspruch klingen mag, es ist keiner. Natürlich musst du danach streben dich von der Begehrlichkeit und selbstsüchtigen Neigungen, die dein Schießen beeinträchtigen, zu befreien. Aber zu beabsichtigen von diesen Neigungen frei zu sein und tatsächlich frei von ihnen zu sein sind zwei verschiedene Dinge. Es gibt Bogenschützen, die vorgeben einen Mangel an Interesse daran zu haben, ob sie treffen oder nicht treffen, wobei sie der Meinung sind, irgendwie würde sie das auf eine höhere, geistige Ebene bringen. Aber das ist gewöhnlich nur eine Pose. Bogenschützen wie diese meiden Situationen wie z.B. Wettkämpfe oder Graduierungs-Prüfungen, die ihre wahren Fähigkeiten austesten würden, unter dem Vorwand, dass diese Dinge nicht wichtig für sie seien. In Wirklichkeit jedoch meiden sie diese Situationen, weil sie den Misserfolg fürchten: tief in ihrem Herzen legen sie genauso Wert auf Wettkampfsiege und fortschreitende Graduierungen wie jedermann, aber sie befürchten, sie könnten für mangelhaft befunden werden, wenn sie getestet würden. Diese Art von Unehrlichkeit ist närrisch, kontraproduktiv und behindert nur Entwicklung. Du kannst dich nicht von deinem Schielen nach dem Ziel befreien, bevor du dir nicht eingestehst, dass du es hast. Das toteki-Stadium ist ein natürliches Stadium und jeder geht in dem einen oder anderen Maße durch es hindurch. Genauso solltest du im Gedächtnis behalten, dass kihaku, oder geistige Intensität, Schwung und Energie vitale Elemente in der Übung des Kyudo sind. Ohne Schwung und Unbeirrtheit kann es dir nicht gelingen. Die Aufgabe ist, sich diese Intensität zu Nutze zu machen und sie zu verfeinern. sitemap Wenn du jedoch nicht über das toteki-Stadium hinauskommst, ist wirkliche, dauerhafte Entwicklung im Kyudo unmöglich. Dieses Stadium hinter sich zu lassen hängt von deiner charakterlichen Reife ab. Eventuell musst du, während du an Erfahrung gewinnst, bis zu dem Punkt heranreifen, an dem du klar sehen kannst, dass toteki eine Sackgasse ist, und dass Kyudo etwas Tieferes enthält, das du suchen musst. Bis dir dies klar wird, wirst du allemal im toteki-Stadium feststecken, ob du das nun erkennst oder nicht. Wenn dir jedoch die Erkenntis kommt, ist der Wandel in deiner Haltung gravierend, und dein Üben wird verfeinert, würdevoll und intensiv werden. Dein kihaku wird, innerlich mehr als nach außen, geordnet. Du hast gelernt unmittelbare Belohnung für das Ideal wirklicher, innerer Entwicklung zu opfern, seit du nun klarer siehst, dass du nur durch geistige Entwicklung weiterhin voranschreiten kannst. Du bist in Gyo angelangt, dem Stadium des wirklichen Übens, wo du dich auf das Üben von Seele und Geist konzentrierst, wohl wissend, dass das der Weg zu wahrem Können ist. Auf diese Weise, indem du dich selbst immer sorgfältiger trainierst, lernst du über die kleinlichen Belange, wie z.B. Aufsteigen in der Graduierung oder Turniersiege, die den unreifen Schützen beuteln, hinaus zu kommen, und an diesem Punkt "beginnt sich der Aspekt von sumu ki ("gefestigter" Geist) zu erhellen", um wieder Murakami Hanshi anzuführen, "Wenn du diese Ebene erreichst, hört deine Seele auf rastlos zu sein, der Schatten weltlicher Begierde nach Ruhm oder Niederlage zieht sich zurück, deine Seele ist unbesorgt und friedlich, und, wie ein Wunder, Seele und Technik sind beide fest und ausgeglichen".***** Du hast die Stufe des kanteki-Schießens erklommen, wo deine Pfeile unmittelbar und echt fliegen, und konsequent das Ziel mit Entschiedenheit und Kraft durchbohren. Das kanteki-Stadium könnte vielleicht als der Gipfel der Entwickklung im kyujutsu, oder der Kunst des Bogens, gehalten werden. Jedoch, Kyudo strebt nach etwas Höherem. Das ist das Stadium des So, wo du über das bewusste Üben der Technik hinauskommst und fähig wirst vollkommen zu schießen, offensichtlich ohne Absicht irgendeiner Art. Solange das Bewusstsein das Schießen leitet, bleibt die Möglichkeit von "suki", oder Schwächen und unkontrollierten Augenblicken, in deiner Seele. Diese kommen plötzlich und ohne Warnung über dich und zeigen dir, dass dein Schießen noch nicht vollkommen ist, dass du irgendwo, tief in deiner Seele, immer noch Zweifel und Ängste hegst. Also setze dein Streben fort und du wirst an irgendeinem Punkt durch die letzten Barrieren brechen und "saeru ki" (einen "klaren Geist") erreichen, in dem es keine Kluft zwischen deiner Seele und deinem Schießen gibt. Du hast Sanmi Ittai erlangt, die Einheit von Seele und Geist, deinem Körper und deiner Kunst. Du, der Bogen und das Ziel existieren alle zusammen als harmonisches Ganzes ohne Unterscheidung und Abspaltung. An diesem Punkt ist das Schießen so vollendet, dass gesagt werden kann, der Pfeil ist bereits im Ziel bevor er abgeschossen wird, so sicher ist es, dass das Schießen gelingt. Das ist "zaiteki". (wird fortgesetzt)

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